Nachdem
der schottischen Premierministerin Nicola Sturgeon Ihr Programm vorlegte, mit
Unterstützung des schottischen Parlaments ein neues Unabhängigkeitsreferendum
für Ende 2018 anzuvisieren, konterte die TAZ am Tag darauf (14.03.2017) mit
einer einseitigen Berichterstattung, die ohne Scheu mit rassistischen Klischees
hantiert. Nach einer absichtlich irreführenden Überschrift – „Vom Brexit zum
„Scexit“; wir wissen ja, dass 62% der in Schottland abstimmenden Menschen beim
Brexitreferendum für ein Verbleib in
der EU wählten, und dass es Sturgeons Regierung genau darum geht –, stellen die
verantwortlichen JournalistInnen, im fotographischen Form, das Urklischee des
vermeintlichen Andersseins der Schotten dar. Ein Schotte im Schottenrock stellt
sich für die Kamera zwischen Kopfhöhen Buchstaben, worauf auf der linken Seite
„Yes“, auf der rechten Seite „No“ zu lesen sind. Er steht vor einem einsamen
Waldhang, es gibt weit und breit kein weiteres Mensch zu sehen, und er lässt
die schottische Fahne wehen, falls wir es gerade mit unserem Bildverständnis
besonders schwer haben.
Ralf Sotscheck und seine KollegInnen schließen sich
hiermit einer Bildsprache der kulturellen Hegemonie an, die die britische,
regierende Klasse über zwei Jahrhunderten sorgfältig aufgebaut hat. Es gilt
festzuhalten, dass alle längere Artikel bezüglich der ersten
Unabhängikeitsreferendum im Jahr 2014 in die ZEIT, dieselbe Bildsprache in
Ihrer photographischen Auswahl bedient haben: Überall Berge, Nebel und Ritter
auf Pferden. Ein moderner, urbaner Alltag, also die Lebensweise, die die
überragende Mehrheit der Menschen in Schottland tatsächlich durchleben, ist
nirgendswo abgebildet.
Ach
– so funktioniert die Hegemonie –, das primitive, schottische Völkchen, wie
schön sind ihre Trachten, ihre Waldhänge und ihre Berge, wie romantisch ist es,
dass es dort in seiner noch nicht verseuchten, abgeschiedenen Natur lebt. Bloß
nicht aber soll die liebenswerte Schotten auf die Idee kommen, von ihren Bergen
wegzugehen, und sich in den Großstädten auch internationalistisch zu vernetzten
und vereinigen, um dadurch verstärkt politische Selbstbestimmung für die in
Schottland lebenden Menschen einzufordern. Das Bild der TAZ ist auf demselben
inakzeptablen Niveau, als wenn ein Bericht über Wahlen in Indien mit einem Foto
von einem exotischen, politisch gesehen aber vereinzelten und deswegen belanglosen
Schlangenbeschwörer illustriert wäre. Die Positionierung der TAZ zu den
schottischen Bestrebungen ist, hingegen, leider sehr wohl vom Belang. Lasst uns
auf den Ergebnisse Herfried Münklers und anderen Denkenden zuerst einigen, und
deren Aussage, dass Deutschland tatsächlich eine Hegemonialmacht innerhalb der
EU ist, als Axiom nehmen[1].
Dies vorausgesetzt, ist es unaufhaltbar, dass die Texte deutschsprachiger
MeinungsmacherInnen auf dem Ergebnis der geplanten Wahl in Schottland 2018
auswirken werden. Es bleibt die Frage, ob TAZ-JournalistInnen bei diesem Thema
tatsächlich als Rückenstütze der jetzigen Macht-Inhaberinnen in Europa
fungieren möchten, oder ob sie bereit wären, die gegenhegemonialen Ansprüche
bestimmter – bei weitem, nicht aller –, europäischer Unabhängikeitsbewegungen
sich zumindest anzuhören. Anders formuliert: sich die Frage zu stellen, ob sie
eine Rolle als „organische Intellektuellen“ im Sinne Gramscis innerhalb dieser
Dynamik hätten.
Was uns zum zweiten Denkfehler der
Berichterstattung führt: Mit Dominic Johnson und Sotscheck voran – fast die
einzigen TAZ-JournalistInnen, die über schottische Politik berichten dürfen –,
beharrt die TAZ darauf, die schottische Unabhängikeitsbewegung als einer der
„Nationalisten“ und des „Nationalismus“ zu diffamieren. Diese Strategie blendet
bewusst die Tatsache aus, dass die überwältigende Mehrheit der 1,6 Millionen
Menschen, die 2014 für die Unabhängigkeit gestimmt hat[2], sich
nie, auf Englisch, als „nationalists“ oder „nationalistic“ selbst bestimmen
würden, sondern als „independence supporters“ oder einfach „yes supporters“.
Auch hiermit ausgeblendet ist die bereits spätestens in 2014 gewonnene
Errungenschaft, dass Yes Scotland
eine anti-rassistische Befreiungsbewegung
erschaffen hat. Diese lehnt grundsätzlich Rasse, Ethnie und Herkunft als
Kriterien für Teilhabe in der Bewegung und als Kriterien für die Erschaffung
des künftigen, unabhängigen Staats ab. Vielmehr ist Yes Scotland eine inklusive Bewegung, die es immerhin erreicht hat,
die Bedingungen des Referendums im 2014 so mitzubestimmen, das
StaatsbürgerInnen aus 79 (ja,neun-und-siebzig) unterschiedlicher Staaten wahlberechtigt waren:
WählerInnen aus 51 anderen Commonwealth-Staaten und 27 anderen EU-Staaten
dürften auch ohne britischen Pass wählen, wenn sie in Schottland wohnhaft
waren. Eine Leistung in Sache internationalistischer Inklusion, die Deutschland
noch nachkommen muss.
Hegemonie erfolgt dadurch, dass
eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen definiert und
durchgesetzt werden. Johnson und anderen bei der TAZ haben eigenen Interessen
daran, emanzipatorischer Bewegungen aus den Peripherien, die ihre eigenen
Denkschemen widersprechen, zu diskreditieren. Denn diese stellen die
Deutungshoheit Johnsons und anderen deutschzentrischen Denkenden in Frage. Die
Darstellung der schottischen Bewegung als eine lächerliche Irritation – Johnsons
Überschrift „Schottische Farce“ möchte blind sein, dem hundertmal größere
britische Farce, die sich gerade abspielt, gegenüber –, wird so vermittelt, als
ob diese Haltung Allgemeininteressen diente, nach dem Motto: „wir“ müssen den
Lesenden gegen sich verirrenden politischen Strömungen schützen. So fährt auch Sotscheck
fort, wenn seine Zwischenüberschrift folgendes behauptet: „Labour und Liberale
wollen, dass auch eine föderale Lösung möglich ist.“ Sotschecks (und
Deutschlands) eigenen Interessen daran, dass den Föderalismus sich auch im
Vereinigten Königreich durchsetzt, verbindet der Autor mit den eigenen
Interessen der Labour Party und der Liberal-Democrats – die sich nun so tun als
ob Föderalismus für Schottland ihnen ein ernsthaftes Anliegen wäre –, um das
Gesamtpaket als gesellschaftlichen Allgemeininteressen zu präsentieren. Dabei
vergisst er mitzuteilen, dass bis heute nur eine sehr kleine Minderheit
innerhalb der British Labour Party sich für den Föderalismus stark macht: Nach
wie vor wird es vom Party-Mainstream als ein exzentrisches Steckenpferd
angesehen, das von der eigentlichen Tagesordnung ablenkt. Dabei übersieht
Sotscheck, sicherlich aus diplomatischen Gründen, dass die von ihm genannten
„Liberalen“ (Liberal-Democrats) über ganz neun von insgesamt sechs-hundert-und-fünfzig
Sitzen im britischen Unterhaus verfügen: Und ungefähr so viel Einfluss ausüben.
Und dabei wird ausgeklammert, dass sowohl Labour als auch die Liberale schon
mal das in Schottland lebenden Wahlvolk mit einem Pseudo-Föderalismus behandelt
haben, um die eigene Haut zu retten: Nur zwei Tagen vor dem letzten Referendum,
dürften die Parteiführer von Labour und von den Liberal-Democrats – in einer
gemeinsamen Nacht-und-Nebel-Aktion mit David Cameron – die Titelseite der
führenden schottischen Boulevardzeitung, The
Daily Record, im Beschlag nehmen –, um „The Vow“ (zu Deutsch: „Das
Gelöbnis“) abzuliefern[3].
Auf altaussehendem, gefärbtem Papier, und mit Unterschriften versehen, macht
dieses Imitat der rechtlichen Verbindlichkeit schwere Andeutungen Richtung
Föderalismus, ohne sich wirklich festlegen zu wollen. Nicht allzu groß ist die
Überraschung, dass „das Gelöbnis“ nach zweieinhalb Jahren zu keiner Neuverteilung
der Macht innerhalb des Vereinigten Königreiches geführt hat.
Beispiele dafür, dass die TAZ
eigenen Interessen in der Berichterstattung über die Unabhängikeitsbewegung
nachgeht, wohlwissend, dass sie befähigt ist, diese als Allgemeininteressen zu
tarnen, sind nicht wenige, und es wäre fruchtlos alle diese zu untersuchen. Wirtschaftliche Argumente beim Ausüben
der kulturellen Hegemonie sind hingegen
so bestimmend, dass es unsittlich wäre, Sotschecks wirtschaftlichen Gründen
gegen der Unabhängigkeit nicht anzufechten. Ohne sich auf einer Quelle zu berufen,
behauptet er aus dem nichts: „Das schottische Haushaltsdefizit läge heute ohne
die Zuschüsse aus London auf dem Niveau Griechenlands zum Höhepunkt der
Eurokrise.“ Wir lassen außer Acht, dass Sotscheck ausgerechnet Griechenland in
dem Vergleich zieht – ein beispielloser Gegenstand, um Hegemonie in Europa
besser zu verstehen –, und fokussieren uns auf der wirtschaftlichen Debatte.
Was Sotscheck bei seiner Berechnung außer Acht lassen will, ist dass den
schottischen Haushalt, seit dem rasanten Ausbau der Nordseeöl-Beförderung ab
1974, auch nicht annährend ihr Anteil von ihren Öl-Einkünfte aus London
erhalten hat. Dieser rückwirkende Anspruch
besteht weiterhin, unbelastet vom Einbruch des Ölpreises in den letzten Jahren.
Das britische Verfassungsrecht unterteilt das britische Nordseegebiet in
spezifische schottische und spezifisch englische Komponente[4].
Deshalb sind Ausrechnungen zu welchen Anteilen der Öl-Gelder schottischen
Haushalten zustanden und zustehen nicht nur theoretisch möglich, sondern wurden
von britischen Regierungen der letzten vier Jahrzehnten auch regelmäßig ausgeführt.
Aussagen britischer Kabinettminister im britischen Unterhaus auf Grundlagen
dieser Berechnungen stellen fest, dass der britische Haushalt der 1990er and
2000er Jahren mit netto 27 Milliarden Pfund jährlich vom schottischen Erdöl profitierte
[5].
Viele in der schottischen
Yes-Bewegung müssen sich dem Widerspruch stellen, dass sie zu der Entfaltung einer
anti-monetaristischen Bewegung beitragen möchten, gleichzeitig aber gegen Versuchen,
wie Ralf Sotschecks – die monetaristische Argumente vorlegen, um die Bewegung
zu stigmatisieren –, sich wehren müssen. „Es ist unmöglich, dass die bettelarme
Schotten das Geldzufuhr in einem unabhängigen Land vernünftig kontrollieren
könnte. Deshalb haben sie gar kein Anspruch auf politische Autonomie.“ So hört
sich der Dauerfeuer der monetaristischen Mörser an, die abermals im Vorfeld des
„indyref2“ – das neue schottische Unabhängikeitsreferendum –, gestartet wird.
Wie wir gesehen haben, bedarf es ein langes Atmen, um die kulturelle Hegemonie,
mitten in dieser Auseinandersetzung, grundsätzlich neu aufzubauen. Dieser
Prozess wird sich weit über das nächste Referendum in Schottland hinaus dehnen,
und wird von keinem Wahlergebnis beendet.
[1] Siehe hierzu „Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in
Europa“, Hamburg (Edition Körber Stiftung) 2015.
[2] Laut Umfragen vom März 2017 ist diese Anzahl deutlich gestiegen. Siehe
hierzu das Bericht in der Tageszeitung The
Guardian, die sich durchgehend gegen der schottischen Unabhängigkeit positioniert
hat, vom 12.03.2017: „Nicola Sturgeon and the SNP are edging towards another
vote, buoyed by a level of support already at 50%.” Nachzulesen hier: https://www.theguardian.com/politics/2017/mar/12/scotland-second-referendum-brexit-could-it-backfire
[3] Dieses historische Dokument kann man auf der Daily-Record-Homepage
besichtigen. Siehe: http://www.dailyrecord.co.uk/news/politics/david-cameron-ed-miliband-nick-4265992
[4] Siehe offizieller Protokoll das Komitee vom 08.06.2004 im britischen Unterhaus
zu diesem Thema: https://www.publications.parliament.uk/pa/cm200304/cmstand/b/st040608/pm/40608s01.htm
[5] Protokollierte
Aussagen zu der Ausrechnung von 27 Milliarden Pfund netto jährlich wurde vom
William Waldegrave, Chief Secretary to the Treasury, zwischen Januar und März
1997 im Unterhaus gemacht, worüber Robbie Dinwoodie in der Tageszeitung „The
Glasgow Herald“ am 27. March 1997 berichtet.
Über die Information
hinaus, die bereits zur Verfügung steht, treten weitere Feststellungen der
britischen Regierung zum Nordseeöl und die schottische Wirtschaft erst nach und
nach an Tageslicht, denn konsekutiven Regierungen haben reichlich von
Geheimnis-Gesetze Gebrauch gemacht, vor allem von dem „Official Secrets Act
1939“, um diese Information zu schützen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang,
ist der McCrone Report über die schottische Wirtschaft und Ökonomie,
einschließlich des Nordseeöls, der 1974 von der britischen Regierung an einem
Beamter der britischen Regierung, Professor McCrone, im Auftrag gegeben wurde.
Als so sehr gefährlich wurde dieser Bericht eingestuft, dass der erst 2005
veröffentlicht wurde. Der Volltext des McCrone-Reports ist hier nachzulesen: http://www.oilofscotland.org/mccronereport.pdf
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