23 March 2017

Schottische Unabhängigkeit, der TAZ rassistische Berichterstattung, und die kulturelle Hegemonie

Nachdem der schottischen Premierministerin Nicola Sturgeon Ihr Programm vorlegte, mit Unterstützung des schottischen Parlaments ein neues Unabhängigkeitsreferendum für Ende 2018 anzuvisieren, konterte die TAZ am Tag darauf (14.03.2017) mit einer einseitigen Berichterstattung, die ohne Scheu mit rassistischen Klischees hantiert. Nach einer absichtlich irreführenden Überschrift – „Vom Brexit zum „Scexit“; wir wissen ja, dass 62% der in Schottland abstimmenden Menschen beim Brexitreferendum für ein Verbleib in der EU wählten, und dass es Sturgeons Regierung genau darum geht –, stellen die verantwortlichen JournalistInnen, im fotographischen Form, das Urklischee des vermeintlichen Andersseins der Schotten dar. Ein Schotte im Schottenrock stellt sich für die Kamera zwischen Kopfhöhen Buchstaben, worauf auf der linken Seite „Yes“, auf der rechten Seite „No“ zu lesen sind. Er steht vor einem einsamen Waldhang, es gibt weit und breit kein weiteres Mensch zu sehen, und er lässt die schottische Fahne wehen, falls wir es gerade mit unserem Bildverständnis besonders schwer haben.
Ralf Sotscheck und seine KollegInnen schließen sich hiermit einer Bildsprache der kulturellen Hegemonie an, die die britische, regierende Klasse über zwei Jahrhunderten sorgfältig aufgebaut hat. Es gilt festzuhalten, dass alle längere Artikel bezüglich der ersten Unabhängikeitsreferendum im Jahr 2014 in die ZEIT, dieselbe Bildsprache in Ihrer photographischen Auswahl bedient haben: Überall Berge, Nebel und Ritter auf Pferden. Ein moderner, urbaner Alltag, also die Lebensweise, die die überragende Mehrheit der Menschen in Schottland tatsächlich durchleben, ist nirgendswo abgebildet.
Ach – so funktioniert die Hegemonie –, das primitive, schottische Völkchen, wie schön sind ihre Trachten, ihre Waldhänge und ihre Berge, wie romantisch ist es, dass es dort in seiner noch nicht verseuchten, abgeschiedenen Natur lebt. Bloß nicht aber soll die liebenswerte Schotten auf die Idee kommen, von ihren Bergen wegzugehen, und sich in den Großstädten auch internationalistisch zu vernetzten und vereinigen, um dadurch verstärkt politische Selbstbestimmung für die in Schottland lebenden Menschen einzufordern. Das Bild der TAZ ist auf demselben inakzeptablen Niveau, als wenn ein Bericht über Wahlen in Indien mit einem Foto von einem exotischen, politisch gesehen aber vereinzelten und deswegen belanglosen Schlangenbeschwörer illustriert wäre. Die Positionierung der TAZ zu den schottischen Bestrebungen ist, hingegen, leider sehr wohl vom Belang. Lasst uns auf den Ergebnisse Herfried Münklers und anderen Denkenden zuerst einigen, und deren Aussage, dass Deutschland tatsächlich eine Hegemonialmacht innerhalb der EU ist, als Axiom nehmen[1]. Dies vorausgesetzt, ist es unaufhaltbar, dass die Texte deutschsprachiger MeinungsmacherInnen auf dem Ergebnis der geplanten Wahl in Schottland 2018 auswirken werden. Es bleibt die Frage, ob TAZ-JournalistInnen bei diesem Thema tatsächlich als Rückenstütze der jetzigen Macht-Inhaberinnen in Europa fungieren möchten, oder ob sie bereit wären, die gegenhegemonialen Ansprüche bestimmter – bei weitem, nicht aller –, europäischer Unabhängikeitsbewegungen sich zumindest anzuhören. Anders formuliert: sich die Frage zu stellen, ob sie eine Rolle als „organische Intellektuellen“ im Sinne Gramscis innerhalb dieser Dynamik hätten.
            Was uns zum zweiten Denkfehler der Berichterstattung führt: Mit Dominic Johnson und Sotscheck voran – fast die einzigen TAZ-JournalistInnen, die über schottische Politik berichten dürfen –, beharrt die TAZ darauf, die schottische Unabhängikeitsbewegung als einer der „Nationalisten“ und des „Nationalismus“ zu diffamieren. Diese Strategie blendet bewusst die Tatsache aus, dass die überwältigende Mehrheit der 1,6 Millionen Menschen, die 2014 für die Unabhängigkeit gestimmt hat[2], sich nie, auf Englisch, als „nationalists“ oder „nationalistic“ selbst bestimmen würden, sondern als „independence supporters“ oder einfach „yes supporters“. Auch hiermit ausgeblendet ist die bereits spätestens in 2014 gewonnene Errungenschaft, dass Yes Scotland eine anti-rassistische Befreiungsbewegung erschaffen hat. Diese lehnt grundsätzlich Rasse, Ethnie und Herkunft als Kriterien für Teilhabe in der Bewegung und als Kriterien für die Erschaffung des künftigen, unabhängigen Staats ab. Vielmehr ist Yes Scotland eine inklusive Bewegung, die es immerhin erreicht hat, die Bedingungen des Referendums im 2014 so mitzubestimmen, das StaatsbürgerInnen aus 79 (ja,neun-und-siebzig) unterschiedlicher Staaten wahlberechtigt waren: WählerInnen aus 51 anderen Commonwealth-Staaten und 27 anderen EU-Staaten dürften auch ohne britischen Pass wählen, wenn sie in Schottland wohnhaft waren. Eine Leistung in Sache internationalistischer Inklusion, die Deutschland noch nachkommen muss.
            Hegemonie erfolgt dadurch, dass eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen definiert und durchgesetzt werden. Johnson und anderen bei der TAZ haben eigenen Interessen daran, emanzipatorischer Bewegungen aus den Peripherien, die ihre eigenen Denkschemen widersprechen, zu diskreditieren. Denn diese stellen die Deutungshoheit Johnsons und anderen deutschzentrischen Denkenden in Frage. Die Darstellung der schottischen Bewegung als eine lächerliche Irritation – Johnsons Überschrift „Schottische Farce“ möchte blind sein, dem hundertmal größere britische Farce, die sich gerade abspielt, gegenüber –, wird so vermittelt, als ob diese Haltung Allgemeininteressen diente, nach dem Motto: „wir“ müssen den Lesenden gegen sich verirrenden politischen Strömungen schützen. So fährt auch Sotscheck fort, wenn seine Zwischenüberschrift folgendes behauptet: „Labour und Liberale wollen, dass auch eine föderale Lösung möglich ist.“ Sotschecks (und Deutschlands) eigenen Interessen daran, dass den Föderalismus sich auch im Vereinigten Königreich durchsetzt, verbindet der Autor mit den eigenen Interessen der Labour Party und der Liberal-Democrats – die sich nun so tun als ob Föderalismus für Schottland ihnen ein ernsthaftes Anliegen wäre –, um das Gesamtpaket als gesellschaftlichen Allgemeininteressen zu präsentieren. Dabei vergisst er mitzuteilen, dass bis heute nur eine sehr kleine Minderheit innerhalb der British Labour Party sich für den Föderalismus stark macht: Nach wie vor wird es vom Party-Mainstream als ein exzentrisches Steckenpferd angesehen, das von der eigentlichen Tagesordnung ablenkt. Dabei übersieht Sotscheck, sicherlich aus diplomatischen Gründen, dass die von ihm genannten „Liberalen“ (Liberal-Democrats) über ganz neun von insgesamt sechs-hundert-und-fünfzig Sitzen im britischen Unterhaus verfügen: Und ungefähr so viel Einfluss ausüben. Und dabei wird ausgeklammert, dass sowohl Labour als auch die Liberale schon mal das in Schottland lebenden Wahlvolk mit einem Pseudo-Föderalismus behandelt haben, um die eigene Haut zu retten: Nur zwei Tagen vor dem letzten Referendum, dürften die Parteiführer von Labour und von den Liberal-Democrats – in einer gemeinsamen Nacht-und-Nebel-Aktion mit David Cameron – die Titelseite der führenden schottischen Boulevardzeitung, The Daily Record, im Beschlag nehmen –, um „The Vow“ (zu Deutsch: „Das Gelöbnis“) abzuliefern[3]. Auf altaussehendem, gefärbtem Papier, und mit Unterschriften versehen, macht dieses Imitat der rechtlichen Verbindlichkeit schwere Andeutungen Richtung Föderalismus, ohne sich wirklich festlegen zu wollen. Nicht allzu groß ist die Überraschung, dass „das Gelöbnis“ nach zweieinhalb Jahren zu keiner Neuverteilung der Macht innerhalb des Vereinigten Königreiches geführt hat.
            Beispiele dafür, dass die TAZ eigenen Interessen in der Berichterstattung über die Unabhängikeitsbewegung nachgeht, wohlwissend, dass sie befähigt ist, diese als Allgemeininteressen zu tarnen, sind nicht wenige, und es wäre fruchtlos alle diese zu untersuchen. Wirtschaftliche Argumente beim Ausüben der kulturellen Hegemonie sind hingegen so bestimmend, dass es unsittlich wäre, Sotschecks wirtschaftlichen Gründen gegen der Unabhängigkeit nicht anzufechten. Ohne sich auf einer Quelle zu berufen, behauptet er aus dem nichts: „Das schottische Haushaltsdefizit läge heute ohne die Zuschüsse aus London auf dem Niveau Griechenlands zum Höhepunkt der Eurokrise.“ Wir lassen außer Acht, dass Sotscheck ausgerechnet Griechenland in dem Vergleich zieht – ein beispielloser Gegenstand, um Hegemonie in Europa besser zu verstehen –, und fokussieren uns auf der wirtschaftlichen Debatte. Was Sotscheck bei seiner Berechnung außer Acht lassen will, ist dass den schottischen Haushalt, seit dem rasanten Ausbau der Nordseeöl-Beförderung ab 1974, auch nicht annährend ihr Anteil von ihren Öl-Einkünfte aus London erhalten hat. Dieser rückwirkende Anspruch besteht weiterhin, unbelastet vom Einbruch des Ölpreises in den letzten Jahren. Das britische Verfassungsrecht unterteilt das britische Nordseegebiet in spezifische schottische und spezifisch englische Komponente[4]. Deshalb sind Ausrechnungen zu welchen Anteilen der Öl-Gelder schottischen Haushalten zustanden und zustehen nicht nur theoretisch möglich, sondern wurden von britischen Regierungen der letzten vier Jahrzehnten auch regelmäßig ausgeführt. Aussagen britischer Kabinettminister im britischen Unterhaus auf Grundlagen dieser Berechnungen stellen fest, dass der britische Haushalt der 1990er and 2000er Jahren mit netto 27 Milliarden Pfund jährlich vom schottischen Erdöl profitierte [5].
            Viele in der schottischen Yes-Bewegung müssen sich dem Widerspruch stellen, dass sie zu der Entfaltung einer anti-monetaristischen Bewegung beitragen möchten, gleichzeitig aber gegen Versuchen, wie Ralf Sotschecks – die monetaristische Argumente vorlegen, um die Bewegung zu stigmatisieren –, sich wehren müssen. „Es ist unmöglich, dass die bettelarme Schotten das Geldzufuhr in einem unabhängigen Land vernünftig kontrollieren könnte. Deshalb haben sie gar kein Anspruch auf politische Autonomie.“ So hört sich der Dauerfeuer der monetaristischen Mörser an, die abermals im Vorfeld des „indyref2“ – das neue schottische Unabhängikeitsreferendum –, gestartet wird. Wie wir gesehen haben, bedarf es ein langes Atmen, um die kulturelle Hegemonie, mitten in dieser Auseinandersetzung, grundsätzlich neu aufzubauen. Dieser Prozess wird sich weit über das nächste Referendum in Schottland hinaus dehnen, und wird von keinem Wahlergebnis beendet. 

[1]             Siehe hierzu „Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa“, Hamburg (Edition Körber Stiftung) 2015.

[2]             Laut Umfragen vom März 2017 ist diese Anzahl deutlich gestiegen. Siehe hierzu das Bericht in der Tageszeitung The Guardian, die sich durchgehend gegen der schottischen Unabhängigkeit positioniert hat, vom 12.03.2017: „Nicola Sturgeon and the SNP are edging towards another vote, buoyed by a level of support already at 50%.” Nachzulesen hier: https://www.theguardian.com/politics/2017/mar/12/scotland-second-referendum-brexit-could-it-backfire

[3]             Dieses historische Dokument kann man auf der Daily-Record-Homepage besichtigen. Siehe: http://www.dailyrecord.co.uk/news/politics/david-cameron-ed-miliband-nick-4265992

[4]             Siehe offizieller Protokoll das Komitee vom 08.06.2004 im britischen Unterhaus zu diesem Thema: https://www.publications.parliament.uk/pa/cm200304/cmstand/b/st040608/pm/40608s01.htm


[5]             Protokollierte Aussagen zu der Ausrechnung von 27 Milliarden Pfund netto jährlich wurde vom William Waldegrave, Chief Secretary to the Treasury, zwischen Januar und März 1997 im Unterhaus gemacht, worüber Robbie Dinwoodie in der Tageszeitung „The Glasgow Herald“ am 27. March 1997 berichtet.

Über die Information hinaus, die bereits zur Verfügung steht, treten weitere Feststellungen der britischen Regierung zum Nordseeöl und die schottische Wirtschaft erst nach und nach an Tageslicht, denn konsekutiven Regierungen haben reichlich von Geheimnis-Gesetze Gebrauch gemacht, vor allem von dem „Official Secrets Act 1939“, um diese Information zu schützen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, ist der McCrone Report über die schottische Wirtschaft und Ökonomie, einschließlich des Nordseeöls, der 1974 von der britischen Regierung an einem Beamter der britischen Regierung, Professor McCrone, im Auftrag gegeben wurde. Als so sehr gefährlich wurde dieser Bericht eingestuft, dass der erst 2005 veröffentlicht wurde. Der Volltext des McCrone-Reports ist hier nachzulesen: http://www.oilofscotland.org/mccronereport.pdf


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