08 March 2012

Festwoche für die Befreiung der Hochdeutschen: Nur mit Anmeldung.

Schon wieder heut Morgen zum Frühstück bei langweiligen Freunden: Ich sitze in einem Ketten-Café nicht weit von der Hamburger Stabi entfernt, und höre eine Unterhaltung am Nebentisch zu. Zwei Frauen, anscheinend türkischen Herkunft, die anscheinend - mein erster Eindruck, zumindest - genau so "gutes" oder "schlechtes" Hochdeutsch sprechen, wie unserem gattungmäßigen Wissenschaftler. Na, und?

Und, wie so oft in Deutschland, konnten oder dürfen die zwei Frauen keine Inhalte besprechen, obgleich sie mit diesen sich gegenseitig hätten bereichern können: Wie wir es auch täglich machen müssen, müssten auch sie vor dem hohen Stuhl der Hochdeutschen auf die Knie fallen und dort die Bußeleistung erbringen. Die eine Frau hatte eine 50-seitige Arbeit - die irgendwo bei einer Vor-Doktorarbeit Stufe einzuordnen wäre - über Literatur im ossmanischen Reichs des 19. Jahrhunderts geschrieben; die andere, befreundete Frau war Akademikerin, schon höher auf der Karriereleiter, die Hilfestellungen anbat. Liebkosenden Zitaten aus Istanbuls Lieblings-Lyriker, oder eine gefühlte Polemik darüber konnte ich aber nicht aufschnappen. Da wir bei den wichtigsten Fragen stecken geblieben sind: "Ein oder einem", "Ossmanischen reich ... klein oder groß geschrieben?", "Komma, dass, noch ein Komma?".

Gibt es einen anderen Land, in der Sprachrichtigkeit, im Gegensatz zu den moralischen oder intellektuellen Richtigkeit der Inhalten geschriebenen oder gesprochenen Sprache, so sehr als Mittel der Auslese angewendet wird als im  Land der Hochdeutschen? Falls nein, sollten wir etwa darüber Stolz sein?

Zu diejenigen Hochdeutschen, die mir die Gnade gezeigt haben, so weit in diesem fehlerhaften, schöffeöligen Text zu lesen,und nun rausplatzen -  "Korrektes Deutsch ist die alle erste Vorrausetzung einer Teilnahme in unserem Club, besonders wenn es um die Teilnahme in unseren wissenschaftlichen oder literarischen Zweige geht. Eine Binnenweisheit!" - zu diejenigen platze ich gerne zurück - "Hören Sie Mal! Ein Mal richtig hinhören, ohne zuerst wegen des Lastes der Unkorrektheit beim Hören aufzuhören. Hören Sie das, was die - 30%? - 40%? - der im Land der Hochdeutschen lebenden Menschen, die nie Ihr Hochdeutsch hinreichend richtig schreiben werden - aussagen. Hören Sie die Aussagen, die Inhalte zu."

Bei der Festwoche für die Befreiung der Hochdeutschen (terminlich mit den jetzigen dreiundvierzig anderen deutschen Befreiungswochen hochnäsig abgestimmt) werden alle Hochdeutschen - und auch alle noch nicht so höhen Deutschen - von den dienstlichen Erbringen Bußeleistungen vor dem o.g. Thron befreit. In dieser Woche
werden allen die Schnauze nach schreiben und sprechen, wie nur die alle Höchsten es sonnst durfte: Wie Goethe, der wahrlich die Hälfte der Reime im Ost-West Divan in jener entspannten Phase der Betrunkenheit aufdeckte, die uns eine befreiende Gleichgültigkeit bietet. (Wo sonnst der Mut "Mahomet gelungen" auf "Welt bezwungen" zu reimen?) In unseren befreienden Festwoche, Goethe fröhlich vergessend, dürfen Welt-Durchbrüche erwartet werden. Chemiker polnischen Ursprung, lassen die Frage " ... von einer Wasserstoffverbindung?' oder '... einer Wasserstoffverbindung?' baden gehen, und schaffen es, im Nu, Brennstoffzellenautos zu bezahlbaren Preisen auf dem Markt zu bringen. Der Schwäbischer Literaturwissenschaftler, der auf dreckigen, subtilen Weise nur wegen vereinzelten - jedoch ungelegenen - Schwäb'sche Versprecher auf Nebenstellen abgeschoben wurde: Er liefert seinen seit Jahren auf Schwäbisch geplanten Schiller-Vortrag, unangekündigt, für zweihundert Studienanfänger. Nach dem die Welle schmerzhaften Peinlichkeit überwunden wurde, wird er zugejubelt. Zum ersten Mal in seinem Leben gibt es eine Studentengruppe, die etwas mit ihm anfangen können. Und die Frauen in Aldi, die gar nicht wissen, dass sie von den hochdeutschen Anforderungen für eine Woche befreit seien, und, wie immer, die Kassiereinnen mit "Du Tomaten?" befragen? Die werden im nächsten Jahr befreit. Immer die Reihe der Integrationkompetenzen nach.